Panikattacken, Depressionen, Sucht - die Nebenwirkungen der Corona-Pandemie

Neuinfektionen, Inzidenzen, Todesfälle und Lockdowns: In der Pandemie bestimmen diese Themen die Schlagzeilen. Die Zustände verändern uns - einige mehr als andere. Sie leiden unter psychischen Problemen oder haben Süchte entwickelt - und Therapieplätze sind rar.

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Ein paar Wochen vor Weihnachten wird es schon ab halb 5 am Nachmittag dunkel. Eine Jahreszeit, die schon manche gesunde Menschen wehmütig macht. Menschen mit Depressionen geht es jetzt noch schlechter. Und die Corona-Pandemie, die uns seit rund zwei Jahren beschäftigt, ist auch an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen. So berichtet der Moerser Psychotherapeut Benedikt Wiesbrock, dass sich Symptome Betroffener noch verstärkt haben:

Durch die Isolation, durch den Wegfall von Struktur, durch den Wegfall von sozialen Kontakten.

"Diagnose: Depression" für jeden fünften Beschäftigten in Deutschland

Längst sind Depressionen keine Randerscheinung mehr. Wie das kürzlich veröffentlichte "Deutschland-Barometer Depression" der Stiftung Deutsche Depressionshilfe beschreibt, hat jeder Fünfte in Deutschland die Diagnose Depression schon einmal bekommen - noch einmal genauso viele vermuten, dass sie betroffen sind. Fast die Hälfte der Betroffenen sagt, dass es ihnen Ende 2020/Anfang 2021 schlechter ging als vorher - bis hin zu Suizidversuchen. Vor allem die Lockdowns wurden als belastend empfunden. In dieser Zeit wurden bei vielen Arzttermine abgesagt, einige haben auch aus Angst vor einer Ansteckung selbst abgesagt.

Auch Selbsthilfe-Gruppen durften nicht stattfinden

Im Lockdown wurde auch der Austausch Betroffener eingeschränkt - Treffen von Selbsthilfe-Gruppen waren aufgrund der Beschränkungen in der Pandemie nicht möglich. Michael von der Selbsthilfe-Gruppe "Das Ohr" in Wesel erklärt, dass ihnen eine WhatsApp-Gruppe geholfen habe. Im Depressionsbarometer schildern aber nur wenige, dass ihnen diese Alternative ausgereicht hat. Dabei sind solche Ankerpunkte für Betroffene wichtig, sagt der Psychotherapeut Benedikt Liesbrock:

Es ist wichtig, im Alltag Strukturen aufrechtzuerhalten - also regelmäßige Abläufe. Gerade Homeoffice verleitet ja dazu, dass man in Jogginghose vorm Laptop sitzt und die Grenzen verschwimmen: Was ist Arbeit? Was ist Freizeit?

Durch Corona deutlich mehr Anfragen für Psychotherapien

Er bestätigt deutlich mehr Anfragen in der Corona-Pandemie bei sich und seinen Kollegen. Aktuell sei es nicht möglich, weitere Patienten aufzunehmen. Ein Erstgespräch sei vielleicht innerhalb einiger Wochen möglich - an einen Therapieplatz zu kommen, dauert Monate. Das hat auch Regina aus Moers erlebt. Im Januar bemerkte sie, dass sie Hilfe braucht - erst im Mai bekam sie Termine beim Neurologen und einem Therapeuten. Für sie ist das ein Armutszeugnis:

Wenn ich mir ein Bein gebrochen hätte, hätte ich nicht so lange warten müssen!

Auch Regina hat es viel Kraft gegeben, sich mit anderen Menschen mit Depressionen auszutauschen. Sie hat uns berichtet, wie sie die Krankheit erlebt hat:

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Psychische Erkrankungen haben viele Gesichter

Häufig sind Frauen von Depressionen betroffen, stellt das aktuelle Depressionsbarometer fest. Sie können in vielen unterschiedlichen Formen vorkommen: Während Regina zum Beispiel noch telefonieren konnte, können andere morgens nicht einmal aufstehen. Michael aus Wesel fiel es schwer, das Haus zu verlassen. Er konnte seine Symptome erst einmal nicht einordnen.

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Nach Herzrasen und Schweißausbrüchen hatte er nicht an das gedacht, was sich später herausstellte: Diagnose Burnout. Noch immer sind große Menschenansammlungen ein Problem für ihn. Inzwischen kann er mit Depressionen und Ängsten aber gut umgehen und leben, leitet selbst eine Selbsthilfe-Gruppe für Betroffene. Auch hier gab es deutlich mehr Anfragen durch Corona - viele musste er abweisen, weil die Gruppe voll war.

Pandemie als Nährboden für psychische Erkrankungen

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Der Psychotherapeut Benedikt Wiesbrock aus Moers sieht in der Pandemie einen Nährboden für psychische Störungsbilder: Vieles hat sich durch die Isolation verschlimmert. Essstörungen, Depressionen, Ängste, Zwänge oder auch Panikattacken. Wie sich die anfühlen, hat Tim aus Wesel erlebt. Vor einigen Jahren ging es bei ihm mit nächtlichen Panikattacken los, kurz vor der Pandemie erlebte er solche Situationen dann auch im Alltag:

Beim Einkaufen stehst du halt irgendwo zwischen Müsliregalen und plötzlich merkst du dann einfach, dass sich alles in dir zusammenzieht, du verkrampfst irgendwie, du kriegst schlecht Luft, du fängst an zu schwitzen, hast Angst... Herzrasen.

Inzwischen geht es ihm besser - anders als viele andere hat er etwa den Lockdown für seine Ängste eher als positiv empfunden, denn dadurch sei gesellschaftlicher Druck abgefallen. Beruhigend auf ihn wirken Sport, Yoga und Tee vor dem Schlafen.

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Einige Menschen haben erst durch die Pandemie Störungen entwickelt. Diesen Eindruck bestätigt auch die Selbsthilfe Kontaktstelle im Kreis Wesel. Im Jahr vor Corona - 2019 - bezogen sich 27 Prozent aller Anfragen auf psychische Probleme. 2020 waren es schon 40 Prozent, Tendenz dieses Jahr wohl steigend. Anja aus Voerde hat durch die Pandemie-Bedingungen eine Sozialphobie entwickelt.

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Aus der Isolation nicht mehr in die Normalität zurückkommen

Anja hat schon zu Beginn der Pandemie auf das gehört, was Experten geraten haben: Zuhause bleiben, wenige Leute treffen, am besten nur einmal die Woche einkaufen gehen - wenn möglich alleine. Und daran hat sie sich gewöhnt, wie viele andere auch. "Cave Syndrom" ist der wissenschaftliche Begriff für das Phänomen, das es uns schwierig macht, wieder mehr Normalität zuzulassen. Einige bleiben lieber in ihrem "Cave", ihrer Höhle - Zuhause. Bei Anja ist daraus eine Sozialphobie geworden. Uns hat sie erzählt, wie sich das äußert:

Ich kann zum Beispiel nicht mehr Bus fahren. Wenn ich an der Bushaltestelle stehe, gehe ich laufen - dieser geschlossene Raum, diese vielen Menschen dann.

Bei solchen Panikattacken schlägt Anja das Herz bis zum Hals, sie muss sich hinsetzen, ein Glas Wasser trinken und durchatmen. Schnellstmöglich hofft sie jetzt auf einen Therapieplatz - denn für sie ist klar: Ich möchte wieder am Leben teilhaben.

Auch Drogenprobleme haben zugenommen

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Jeder hat einen anderen Umgang mit der Isolation für sie gesucht. Einige Jugendliche im Homeschooling haben angefangen, Drogen zu nehmen, sagt die Weseler Drogenberatung. Durch den Lockdown ist vieles weggebrochen - einige kamen mit dem Online-Unterricht und dem Wegfall von Sportangeboten nicht zurecht. Einsamkeit, Frust und Langeweile nahmen zu - und sie entdeckten Drogen für sich (wieder). Vor allem Cannabis und Heroin sind hier ein Thema.

Drogen eignen sich für viele dazu, erst einmal negative Gefühle zu betäuben. Das Problem ist natürlich: Wenn die Wirkung der Droge nachlässt, sind die negativen Gefühle wieder da - meistens schlimmer als vorher. Und dann wird oft wieder nachgelegt.

Martin Peukert von der Weseler Drogenberatung muss leider auch eine traurige Bilanz ziehen: Anfang November gab es mit neun Drogentoten schon mehr als doppelt so viele wie in den Jahren vor Corona - und das Jahr ist noch nicht zu Ende. Besonders schlimm ist für Betroffene die Weihnachtszeit. Und auch die Wartezeit auf Therapieplätze liegt inzwischen bei einem halben Jahr, doppelt so lange wie vor Corona.

Tipps für Angehörige bei Verdacht:

  • Nicht anklagend sein, aber nachhaken und Unterstützung anbieten
  • Bestätigt sich der Verdacht: Beratungsgespräch vereinbaren - die Beratungsstellen in Wesel, Moers, Xanten und Dinslaken beraten mit Schweigepflicht und kostenfrei

Aktuelle Wartezeit auf Therapieplätze liegt bei bis zu einem halben Jahr

Aktuell warten Betroffene laut Psychotherapeutenkammer NRW 3-6 Monate auf einen Therapieplatz. Auch, wenn die Wartedauer anstrengend ist: Eine Therapie ist sinnvoll. Dabei werden auch nur die Probleme angegangen, die der Betroffene selbst angehen möchte - betont der Moerser Psychotherapeut Liesbrock. Betroffene werden bei den eigenen Zielen unterstützt.

Da kommt niemand von außen und sagt: Folgendes ist jetzt Ihr Problem und das verändern wir jetzt. Ich hab als Betroffener auch immer die Möglichkeit, Grenzen zu ziehen und bin da nicht einfach ausgeliefert.

Die Psychotherapeutenkammer NRW rät davon ab, in der Zwischenzeit Medikamente zu nehmen, die verschrieben werden. Um die Wartedauer auf den Therapiebeginn zu überbrücken, können Erfahrungsgruppen hilfreich sein - unter Anleitung von Experten. Diese werden über die Sozialpsychiatrischen Dienste vor Ort organisiert. Die Kammer schätzt auch:

Es ist davon auszugehen, dass diese Probleme erst noch anwachsen werden. Psychische Reaktionen haben in der Regel eine längere „Anlaufzeit“, wenn es sich nicht um Trauma-Situationen handelt. 

In akuten Notsituationen (etwa bei Suizidgedanken), sollten Betroffene die 112 wählen. Eine Aufnahme in die psychiatrische Klinik ist dann möglich. Diese liegen bei uns im Kreis in Dinslaken und Rheinberg. In Dinslaken habe man keinen akuten Anstieg der Aufnahmen durch die Pandemie bemerkt, die Station sei eigentlich immer voll belegt.

Ihr seid betroffen? Hier findet ihr Unterstützung!

Erster Ansprechpartner: der eigene Hausarzt/die eigene Hausärztin - bei Bedarf gibt es hier eine Überweisung an einen Facharzt/eine Fachärztin (Psychiater*in, Nervenarzt/-ärztin) bzw. psychologischen Psychotherapeuten. Termine für ein Erstgespräch vermitteln die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen: 116117 anrufen

In absoluten Notfällen: bei drängenden oder konkreten Suizidgedanken - 112 wählen oder die nächste psychiatrische Klinik kontaktieren, das sind bei uns im Kreis Wesel das St. Vinzenz-Hospital in Dinslaken (02064/44-0) und das St. Nikolaus Hospital in Rheinberg (02843/179-0).

Unterstützung vor Ort: z.B. für die Therapie-Wartezeit gibt es Angebote der Sozialpsychiatrischen Zentren, hier finden etwa Erfahrungsgruppen mit fachlicher Leitung statt. Im Kreis Wesel gibt es das Sozialpsychiatrische Zentrum in Moers (02841/9010-40), in Wesel (0281/16333-0) und in Dinslaken (02064 4493-50).

Suche nach einer Selbsthilfegruppe: Die Selbsthilfe-Kontaktstelle Kreis Wesel mit Sitz in Moers (02841 90000) hat einen Überblick über alle 320 Angebote im Kreis Wesel, sie vermittelt eine passende Gruppe für den Austausch mit anderen Betroffenen - zur Teilnahme ist es wichtig, das bereits eine Diagnose erfolgt ist!

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